Presse

Interview WDR
Walter Adler zur Musik
Der Bettler vom Kölner Dom – Artikel in neue musikzeitung
Nosferatu – (Uraufführung) Jakarta Post Oktober 2012


Interview WDR

Wie wird man Hörspiel–Komponist?

Mich hat immer das Zusammenspiel unterschiedlicher Künste interessiert. So auch die Wirkung von Musik im Zusammenhang mit Erzählung, Sprache, Schauspiel, Tanz, Bild, Raum, Film, etc. In all diesen Bereichen hatte ich Gelegenheiten Erfahrungen zu sammeln und als Musiker und Komponist mit Künstlern der unterschiedlichen Disziplinen arbeiten zu können. Und das Hörspiel nimmt dabei eine ganz besondere Stellung ein.
Denn beim Hörspiel entstehen die Personen und Spielorte der Geschichte ganz und gar im Kopf des Zuhörers. Alleine der Klang der Stimmen und das Gehörte stimulieren die Phantasie. Dazu Musik machen zu können, ist mir nach wie vor eine der liebsten Aufgabenstellungen überhaupt. Nicht zuletzt, weil das Erleben eines Hörspiels ein so intensiver und intimer Vorgang ist. Ich selbst bin dabei meist alleine, konzentriert unter einem Kopfhörer oder in einer störungsfreien Umgebung. Nur die Geschichte und ich, volle Aufmerksamkeit und Hingabe.

Ist Hörspiel–Musik mit Filmmusik zu vergleichen?

In mancher Hinsicht schon. Es hängt sehr vom Stoff und dem dramaturgischen und ästhetischen Konzept ab. Manchmal wird ein Hörspiel ja als eine Art „Kino im Kopf“ bezeichnet. Insofern ist dann die Musik zum Hörspiel auch eine Kopf-Film-Musik. Abgesehen davon hat sie häufig im Hörspiel auch ähnliche Aufgabenstellungen und Wirkungen wie im Film. Auf der anderen Seite gibt es aber auch erhebliche Unterschiede. Es gibt keine spektakulären Landschaftsbilder, keine Kamerafahrten, keine stummen Handlungen etc. die im Film mit Musik zu unterlegen wären. Keine Gesichter, geschlossene Türen, Blicke, Überraschungen, die mit Musik unterstützt zu gewaltigen Filmeffekten geraten können. Im Hörspiel wir ALLES erzählt. „Auf der anderen Straßenseite steht schweigend ein Mann, raucht eine Zigarette.“ oder „leise zog er ein Messer aus seiner Tasche.“ kann man im Hörspiel nur mit Text erzählen, das kann man nicht nur erspielen und/oder musizieren.

Wie eng ist sind Textgrundlage, Plot und die Figuren mit der Musik verbunden? (vielleicht am Beispiel vom Orientzyklus)

Bei der Musik zum Orientzyklus habe ich mich direkt an den Situationen und den Figuren einer Geschichte orientiert. An der Atmosphäre und Stimmung der Spielorten, den Charakteren und der Ausstrahlung der Personen. Wie hört es sich an über die letzte Düne zu reiten und das Schott Dscherid, oder die Festungsstadt Amadijah zu erblicken. Was ist Lord Lindsay für eine Erscheinung und wie klingt das? Welche Töne und Klänge erzeugen die Angst und die Bedrohung, die vom Bösewicht Mübarek ausgehen. Da habe ich übrigens häufig wirklich sehr filmisch gedacht. Ich vertonte die Bilder in meinem Kopf.
Beim Orientzyklus kommt noch eine spezielle Gegebenheit hinzu: Karl May hat die Geschichten, Personen und Landschaften etc. allesamt erfunden. Daher war wichtig, dass auch ich eine erfundene Welt vertone, also eben NICHT echte Folklore stattfindet, sondern eine ausgedachte orientalische Musik. Alles andere wäre verkehrt und würde die Geschichte Mays pseudo-authentisch, folkloristisch abwerten. May bleibt immer Europäer in seiner Orientdarstellung und Beschreibung, und ich erhalte diese Erzählperspektive konsequent auf der musikalischen Ebene bei. Erst dadurch wird die Geschichte im Sinne des Autors musikalisch unterstützt und sie kann sich entfalten.

Greift der Regisseur in Ihre Arbeit ein?

Die Zusammenarbeit zwischen Regie und Musik ist im besten Fall die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Ausdrucksformen und greift insofern wünschenswerterweise immer ein, und zwar in beiden Richtungen.
Ich hatte bisher eigentlich immer das Glück mit Regisseuren arbeiten zu können, die darauf großen Wert legen und es verstehen meine Möglichkeiten des Ausdrucks für ihre Arbeit zu nutzen. Walter Adler z.B. macht häufig Dinge mit meiner Musik, die ich selbst gar nicht für möglich gehalten hätte und die mich überraschen. Und das bringt mich selbst wiederum auf völlig neue Ideen.
Die Grundlage für eine derart fruchtbare Zusammenarbeit ist natürlich eine ausgiebige und geduldige Besprechung in der Konzeptionsphase einer Produktion. Dafür nehmen wir uns immer viel und gründlich Zeit, und ich schätze und genieße es sehr, wenn die Atmosphäre, die Stimmung, die Instrumentierung sozusagen, für mich mehr und mehr spürbar, hörbar wird.

Entsteht die Musik vor, nach oder Während des Produktionsprozesses?

Bei „meinen“ Hörspielproduktionen in der ARD entstand die Musik immer parallel zu den Wortaufnahmen. Sie stand dann immer fix und fertig zum Zeitpunkt der Mischung zur Verfügung. Das ließ sich bisher auch trotz aller Bemühungen nicht anders einrichten. Beim Film ist das ganz anders. Da bekomme ich einen Rohschnitt und kann dazu die Musik entwickeln. In diesem Bereich hat das Radio-Hörspiel noch ein riesiges Potential an unentdeckten/-entwickelten Möglichkeiten und ich wünsche mir sehr, daß es bald einmal dazu kommt.

Kann man die Musik auch ohne den Text hören?

Zurzeit arbeite ich an einer Audio-CD mit Hörspielmusik zum Orientzyklus. Dazu werden einzelne Stücke aus den vielen Stunden Musik für das Hörspiel neu arrangiert, zum Teil neu eingespielt und speziell abgemischt. Das ist etwas ganz Neues. Von Filmmusiken kennt man das ja, aber im Hörspiel hat es das bisher meines Wissens nicht gegeben.

Arbeiten Sie mit „echten“ Musikern oder Orchester?

Die synthetische und die akustische Klangerzeugung haben beide ihre spezifischen Möglichkeiten, Eigenarten und Qualitäten, die ich beide sehr schätze und sehr gerne einsetze. Besonders reizvoll empfinde ich Kombinationen der beiden Klangwelten.
Wenn es irgendwie möglich ist, und gewünscht und finanziert wird, arbeite ich am liebsten mit Musikern, mit Ensembles oder Orchestern. Die leibhaftige Klangerzeugung ist bisher durch nichts zu ersetzen.
Für meine Stummfilmprojekte habe ich etliche Kompositionen für Ensembles oder Orchester geschrieben und als Instrumentalist oder Dirigent live aufgeführt, Die Wirkung der klingenden Instrumente in einem Konzertsaal in Kombination mit dem Film ist immer wieder überwältigend.
Daneben steht uns Musikern und Komponisten inzwischen eine überwältigende Palette an synthetischen Klängen und effizienter Studiotechnik zur Verfügung, von der man vor wenigen Jahren kaum zu träumen wagte. Und es wird immer toller!

Spielen Sie selber ein Instrument?

Aber ja! Ich habe mit 5 Jahren begonnen Klavier zu spielen. Gleichzeitig hatte man sich auch in den Kopf gesetzt mich an diesem Instrument zu unterrichten. Vielleicht beides führte mich zum Studium und schließlich einem Konzertexamen am Richard-Strauss-Konservatorium in München. So habe ich mich immer damit beschäftigt zu hören, zu lauschen, zu gestalten, zu formen was da klingt.
Dazu spiele ich etwas Querflöte, Klarinette, Gitarren, und liebe es mit allem möglichen Material zu experimentieren. Zum Beispiel durfte ich bei einer Schauspielproduktion vom „Merlin“ (Tankred Dorst) die Bühnenmusik entwickeln und aufführen. Ich benutzte alle möglichen Flöten und Pfeifen, diverse Trommeln und Fässern, Drehleier, Röhrentrompeten, sowie ein 7 Meter hohes Glockenspiel, eine ebenso große Harfe und tonnenschwere freischwingende Metallplatten. Wir hatten allergrößtes Vergnügen mit diesen Instrumenten und die Wirkung war gigantisch. Das Beste allerdings war die Auswahl der geeigneten Metallplatten im nahegelegenen Saarländischen Stahlwerk. Die Arbeiter dort in der Fertigungshalle waren zunächst extrem skeptisch, was die „Verrückten vom Theater“ da wollen. Nach kurzer Zeit allerdings packte sie die Leidenschaft und ein Dutzend Stahlarbeiter wurde nicht müde riesige Stahlplatten in unterschiedlichen Stärken und Zusammensetzungen mit speziellen Kränen hochzuziehen, um sie mit Hämmern, Knüppeln, Stangen und Ketten zu bearbeiten, die besten Stellen für die Erzeugung verschiedenster Klänge vorzuschlagen und die richtigen Aufhängungspunkte zu finden. Es war ein Fest!

(WDR 2007)

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Walter Adler zur Musik

Hörspiel Musik Musik Hörspiel

[Der Komponist Pierre Oser]

Es wird Menschen geben, die meinen, über Musik zu lesen, sei in etwa so interessant, wie Farbe beim Trocknen zusehen. Und ich muß sagen, dass ich mich dieser Meinung, zumindest teilweise, gerne anschließe. Musik muß man hören, so wie man Filme ansehen, und Theateraufführungen beiwohnen muß. Darüber zu lesen, mag für den einen oder anderen Intellektuellen ein überaus elaboriertes Vergnügen darstellen. Den meisten aber geht es wohl so wie mir: ich höre lieber Musik als dass ich darüber lese. Schließt das nun ein, dass über Musik zu schreiben ebenso öde ist? Im Grunde schon. Wie nun diesem Dilemma entkommen? Eine Möglichkeit wäre, den Komponisten Pierre Oser einfach über den berühmten grünen Klee zu loben, von wunderbarer Zusammenarbeit, ohne jegliche Konflikte, mit einem am Ende überragenden Ergebnis zu erzählen. Eine andere Möglichkeit könnte darin bestehen, die Schwierigkeiten und nicht enden wollenden Diskussionen, die unsere Tage und Nächte vor Produktionsbeginn begleiten, und die sie zu einer wahren Qual werden lassen, zu zitieren. Denn: Ach, schöpferische Prozesse sind ja so mühsam! Die Geburt eines Kindes dagegen bloß ein Osterspaziergang. Die Wahrheit ist: es stimmt beides. Die Leichtigkeit, der Spaß, die Freude und unbekümmerte Ausgelassenheit im Vorfeld der Entscheidungen. Genau so wie die Quälerei und Pein, die leicht und schnell in Gezänk und anhaltender Disharmonie ausarten können, wenn der Tag der Entscheidungen näher rückt. Und dann endlich: fertig! Ein Ergebnis ist zu begutachten. Und fast immer sind wir glücklich und froh, selten ganz zufrieden.

Um also eine berühmte Frage, leicht abgewandelt, zu zitieren: Wie geht das, Herr Adler, mit dem Herrn Oser? Wie sieht denn nun ihre Zusammenarbeit aus? Angefangen hat es 1998 in Stuttgart, als mir der damalige Leiter der Hörspielabteilung SDR, Matthias Spranger, für die Realisierung des opulenten Vierteiles „Radio Romance [nach dem gleichnamigen Roman von Garrison Keillor], einen Komponisten namens Pierre Oser vorschlug. Pierre Oser? Ich kannte den Hörspielkomponisten Peter Zwetkoff. Mit ihm hatte ich ein paar Mal zusammengearbeitet. Michael Riessler, war mir ein Begriff, aber Pierre Oser? Nie gehört. Beim ersten Treffen wurde mir dann ein heiter lächelnder junger Mann vorgestellt, der überhaupt nicht wie ein Komponist aussah. Egal. Über Musik haben wir an diesem Abend kein einziges Wort gesprochen. Dafür die Probleme der Welt gelöst, sehr gut gegessen, und sehr gut [mit Ausnahme des Komponisten, der sein Leben ohne Alkohol lebt], getrunken. Am Ende der Nacht wussten wir voneinander, wie der andere „tickt“, über die Welt denkt, welche FilmeBücherTheater-stückeLiteraturOpernFussballerComputerprogramme der andere mag oder nicht mag, und auch noch ein paar andere Sachen, die hier zu erwähnen nicht schicklich wäre.

Erlaubt sei, Picasso zu zitieren. „Was, glauben Sie, ist ein Künstler? Ein Dummkopf, der nichts als Augen hat, wenn er Maler ist, oder Ohren, wenn er Musiker ist, oder eine Lyra auf jeder Ebene seines Herzens, wenn er Dichter ist … ganz im Gegenteil, er ist gleichzeitig ein politisches Wesen und sich stets bewusst, was auf der Welt stattfindet, sei es quälend, bitter oder süß und er kann nicht anders, als davon geformt zu sein.“

Was mich interessiert, ist der „point-of-view“, der Standpunkt, von dem aus einer die Welt sieht. Von „oben“ [nach unten], oder von „unten“ [nach oben]. Schmiegt er sich an, oder stemmt er sich dagegen? Dabei ist es keineswegs so, dass ich als Partner bei der Arbeit allein Zwillinge akzeptiere. Im Gegenteil. Widerspruch, eine eigene andere Sicht der Dinge, das ist es, was ich suche. Immer nach dem Motto: Wenn zwei der gleichen Meinung sind, ist einer überflüssig. Das ist der entscheidende Punkt. Einig im Großen, Widerspruch im Kleinen. Über diese Fähigkeiten verfügt Pierre Oser in großem Masse. Davon später. Zurück zu „Radio Romance“. Irgendwann haben wir dann auch über die Musik gesprochen. Das Ergebnis kann gehört werden. In der Zwischenzeit haben wir 13 Produktionen miteinander gearbeitet, darunter so wichtige Projekte wie „Otherland“, „Das Glück der Anderen“, „20.000 Meilen unter den Meeren“ und zuletzt der „Orientzyklus“ nach Karl May.

Als ich im Hörspiel anfing, 1969, war ich der Meinung, Musik im Hörspiel müsse etwas anderes sein, als die mir damals bekannte „Hörspielmusik“. Textliche Fortschreibung. Das war es, was ich suchte. Und natürlich hatte ich Vorbilder und Idole. Alle nicht aus dem Hörspiel kommend. Mit einer Ausnahme, aber das war auch ein Filmregisseur. Max Ophüls. Godard, Truffaut, Chabrol, Melville, Warhol, Peckinpah, Sergio Leone und Sergio Corbucci. John Lennon, Keith Richards, The Who, Jim Morrison, das waren die Helden jenseits von aller E-Kultur. Dashiell Hammet und Chester Himes, sie erzählten etwas über die Welt, die mich interessierte und in dieser Welt kam die Musik vom Plattenspieler oder vom Tonband. „Lets spend the night together“ war nicht einfach nur ein Pop-Titel der im Autoradio gespielt wurde, sondern die Art von „Hörspielmusik“ war mehr. Sie veröffentlichte sozusagen die geheimen Sehnsüchte des jungen Mannes und der jungen Frau, die da im Auto fuhren und zum Erbarmen aneinander vorbeischwadronierten.Jahrelang habe ich so gearbeitet. Musik war immer auch Text, inhaltliche Information. Nicht, dass ich das heute nicht mehr machen würde, aber im Grunde hat mich Pierre Oser von dieser allzu engen Sicht auf die Möglichkeiten und Sprachen der Musik befreit. Ihm verdanke ich Zugang zur Klassik und zum Jazz.

Und damit sind wir wieder beim Komponisten Pierre Oser. Und warum ich mit ihm, und nur noch mit ihm und keinem anderen arbeite. Dieser zurückhaltende Musikus verfügt über ein geradezu unglaubliches Musikwissen, verbunden mit der seltenen Fähigkeit, dieses Wissen ganz ohne Besserwisserei, und Angeberei vor sich auszubreiten, und damit anderen als Arbeitsmaterial zur Verfügung zu stellen.

Mehr noch, Pierre Oser ist Künstler ganz im Sinne von Picasso. Seine Arbeiten fürs Goethe Institut in Asien und Südamerika geben davon Zeugnis.

Noch aber habe ich immer noch nicht gesagt, was mir an der Musik von Pierre Oser so gut gefällt, dass ich mir Hörspiele ohne seine Mitarbeit kaum noch vorstellen kann. Sie werden es nicht glauben, aber, was ich am meisten an seiner Musik schätze ist, dass man sie nicht hört. Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Ich meine das ganz ernst. Das wunderbare an Pierre Osers Musik ist, dass sie sich in die Handlung, die Szene, den Hintergrund, die Geräusche einpasst, so als sauge sie alles auf und strukturiere den Sound der Szene neu. Wer es nicht glaubt, soll sich das Hörspiel „Das Glück der Anderen“, nach dem gleichnamigen Roman von Stewart O’Nan anhören. Da ist Pierre Osers Musik der Atem des Ganzen.

Wie er das macht? Ich weiß es nicht. Fragen Sie ihn. Aber Pierre Oser kann auch anders. Laut grell und heftig wenn es sein muß.

Damit sind wir beim „Orientzyklus“ von Karl May. Anders als bei Stewart O’Nan, ist hier in Karl Mays großem Werk, seinem bedeutendstem, wie ich meine, die Musik alles. Sie ist die Wüste, die Schluchten des Balkans und das wilde Kurdistan. Sie ist gleichzeitig Kara Ben Nemsis messianische Botschaft und Hadschi Halef Omars kuriose Bekehrungssouda, sie strukturiert die Szenen und konterkariert die Emotionen der Helden oder Bösewichter. Sie ist Deutschland von 1864 und Kino von 2007. Sie ist grandios, bombastisch, zart bis zur Sentimentalität, und, und das ist ganz besonders wichtig, sie ist immer genau. Soll heißen. Trotz gelegentlicher Schleifen ins Hollywoodianische verlässt sie den jeweiligen topographischen Boden nie. Die Instrumente der Araber haben ihren Raum, so wie die Instrumente der Kurden und Skipetaren. Es ist Pierre Osers Musik, die Mays Reise durch so viele Welten abbildet, ohne Volkshochschule zu sein. Das ist in meinen Augen eine grandiose Leistung. Dafür danke ich Dir, Pierre.

Walter Adler

Nazareth. Juli 2007, Bretagne Frankreich
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nmz (neue musikzeitung)

17.01.2010 – Artikel von Jens-Uwe Völmecke

Musik im Dienst des Bildes

Pierre Oser schuf Filmmusik für den „Bettler vom Kölner Dom“

(nmz) – Freddy Schenk und Max Ballauf sind nicht die ersten Verbrecherjäger im Schatten des Kölner Doms.
Kriminalgeschichten, gepaart mit Action- und Abenteuereinlagen, waren immer schon populär, im Tonfilm wie im Stummfilm. „Der Bettler vom Kölner Dom“ ist ein filmhistorisches Dokument, das im Jahr 1927 im alten, vom Krieg noch unversehrten Köln entstand. 

Der Filmkomponist Pierre Oser schuf jetzt eine neue passende Begleitmusik im Auftrag des WDR, dessen Rundfunkorchester sich damit ein neues Metier erobert.

 „Das Material ist purer Sprengstoff“, so lautet die Warnung der Filmarchivare, wenn sie eine Büchse mit Nitrofilm öffnen. Mehr als fünf Jahrzehnte war Nitrozellulose jedoch die einzige Trägersubstanz für Kinofilme. Nicht ganz ungefährlich, denn je älter so ein Film wird, umso mehr zersetzt er sich und umso gefährlicher wird er. Ein unbeabsichtigter Funke oder im Extremfall auch nur eine unbeabsichtigte Überhitzung, und der Film entzündet sich selbst. Wie so viele Schätze des frühen deutschen Kinos, so lagerte auch die letzte erhaltene Kopie eines Krimis aus dem Jahr 1927 im Archiv der „Stiftung Deutsche Kinemathek“, bis sie vor einigen Jahren vom Bundesarchiv-Filmarchiv/Berlin, mit dem die Kinemathek längjährig zusammenarbeitet, aus Konservierungsgründen auf Sicherheitsfilm umkopiert wurde. Auf diese Weise hatte man dem schleichenden Zerfall, dem der „Bettler vom Kölner Dom“ bis dato ausgesetzt war, zunächst einmal Einhalt geboten. 

Bettler vom Kölner Dom

Ein Titel, der den Redakteur Winfried Fechner hellhörig machte, sucht er doch als Manager des WDR Rundfunkorchesters ständig neue und spannende Aufgaben für seinen vielseitig orientierten Klangkörper: Musik zu einem Stummfilm, ein Krimi mit Schauplätzen unmittelbar vor der eigenen Haustür, Mord und Totschlag und eine geheimnisvolle Gangsterbande – Freddy Schenk und Max Ballauf (Tatort) sind nicht die ersten Verbrecherjäger im Schatten der Kathedrale. – Ein vergessenes Filmjuwel also, dessen Wiederentdeckung sich lohnen würde. Ein Juwel, das zudem noch einzigartige Aufnahmen der vom zweiten Weltkrieg noch unzerstörten Domstadt und des Rosenmontagsumzuges 1927 bietet.

Dieser Meinung war man auch bei ARTE, wo es dankenswerter Weise noch einen eigenen, regelmäßigen Sendeplatz für das Genre Stummfilm gibt. „Der Bettler vom Kölner Dom“ ist ein klassisches Beispiel für frühes deutsches Repertoirekino. Schnörkellos und gradlinig inszeniert, gute Darsteller und eine spannende Geschichte, dabei ohne den Anspruch ein zeitloser Klassiker zu werden. Solche Filme waren ungeheuer beliebt, ähnlich wie Groschenromane. Die Kopien wurden so lange durch die Projektoren gejagt, bis sie unbrauchbar waren und anschließend entsorgt wurden. Deshalb sind gut erhaltene Stücke so selten. Mehr als zwei Drittel der Kino-Konfektionsware der Weimarer Republik gilt heute als komplett verschollen.

Winfried Fechner gab bei dem Münchner Filmkomponisten Pierre Oser eine neue passende Begleitmusik in Auftrag, und während der fleißig Noten schrieb, wurde der Film durch ZDF-Arte in einer HD-Abtastung gereinigt. Die Lichtverhältnisse und der Bildstand wurden digital korrigiert. Kratzer und Zersetzungserscheinungen wurden weitestgehend eliminiert.

Im Sommer 2009 wurden dann in einer zweiwöchigen Produktionssitzung im Klaus von Bismarck-Saal des WDR unter der musikalischen Leitung von Titus Engel das stumme Bild und die neue Musik erstmalig aufeinander abgestimmt. „Pierre Oser hat es tatsächlich geschafft, hier eine Musik zu schreiben, die sich vollständig dem Bild und der Bildersprache unterordnet“, freut sich Winfried Fechner. Die Kunst des Dirigenten besteht darin, das Orchester bei den Aufnahmen, bei denen der Film übrigens für alle sichtbar mitläuft, so präzise zu führen, dass jeder musikalische Akzent und jede instrumentale Pointe auf den „Bild“-Punkt genau sitzt.

Wer sich Stummfilme heute ansehen will, der muss sich auf eine ganz andere Ästhetik einlassen. Kameramann Willy Hameister verwendet zum Beispiel sehr viel Zeit und Detailarbeit bei der Großaufnahme von Gesichtern. Jede Stimmungs- und Gemütsveränderung spielt sich in der Mimik des Darstellers ab. Ohne Musik wirkt das unglaubwürdig. Hier hilft Piere Osers Musik ungemein. Es gelingt ihm tatsächlich, dass der Zuschauer in dem betreffenden Moment musikalisch das hört, was die Person auf der Leinwand gerade denkt. Präzision im dynamischen Spiel ist bei so einer filigranen musikalischen Arbeit unerlässlich, und das WDR Rundfunkorchester hat gemeinsam mit Titus Engel diese Herausforderung bestanden. 

Es passiert unglaublich viel in diesem Film: Mord, Raub, Attentate mit Giftgas, ein kompliziertes Katz- und Mausspiel während des Kölner Karnevals und eine finale Verfolgungsjagd auf dem Rhein – alles in rund 100 Minuten. Aber es geschieht „entschleunigt“ und im Zweifelsfall mit der Geschwindigkeit, die der Tachometer (in Großaufnahme) anzeigt: Mit 80 bis 100 Kilometern pro Stunde!

Am Ende dieser ersten gemeinsamen Arbeit zwischen WDR Rundfunkorchester Köln und ZDF Arte stehen eine TV-Ausstrahlung bei ARTE, eine öffentliche Aufführung im Großen Sendesaal des WDR und eine DVD-Veröffentlichung im Rahmen der Münchner „Edition Filmmuseum“. […]

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